Ein Reisebericht aus Thüringen

Ein schöner Land in wilder Zeit

Wenn man sich auf der A4 hinter Gotha in einer sanften Linkskurve auf Erfurt zubewegt, erblickt man ein beeindruckendes Panorama. Drei Inselberge erheben sich aus der Ebene, alle behütet mit drei Burgen: die Veste Wachsenburg, die Burg Gleichen und die Ruine der Mühlburg. Es ist das grüne Herz Thüringens, zu Füßen der Thüringer Berge, das an diesem Christhimmelfahrtstag Ende Mai 2019 unter einem blauen Himmel seinen Glanz entfaltet.

Gerade einmal zehn Tage war es her, dass ich ein Wochenende in Gotha zur Unterstützung des dortigen Wahlkampfs verbracht hatte. Vor Blick auf den Urnengang hatte eine gespannte Vorfreude geherrscht. Nach dem unerwartet guten Abschneiden insbesondere in den Kommunalwahlen in Ostdeutschland freute sich nun die Reisegruppe auf ein Wochenendende voller Wiedersehensfreude und Feierlaune.

Es war eine Jubiläumsreise, zu der Waltraud und Heinrich Angenendt, Maria Tölle, Jürgen Lange, Raphaela Blümer und Bernhard Meyer gen Osten aufgebrochen waren. Seit zehn Jahren bestand bereits die Freundschaft zwischen dem Grünen Ortsverband Drensteinfurt und den Grünen in Nesse-Apfelstädt, wobei der Kreisverband aus Gotha im Laufe der Jahre mit in die Beziehung eingemeindet wurde.

Es war ein Freundschaftsbesuch, weil nicht nur der Start der Partnerschaft aus dem Gefühl erwachsen war, dass hier etwas zusammen passen könnte. Sondern auch, weil sich im Laufe der Jahre auch über die lange Distanz hinweg eine freundschaftliche Beziehung entwickelt hatte. Die politischen und gesellschaftlichen Ziele, die man trotz diverser kultureller und sprachlicher Barrieren teilt, haben sicher dazu beigetragen.

Schon direkt nach der Ankunft im Pfarrhaus der Herrnhuter Brüdergemeine in Neudietendorf und der herzlichen Begrüßung durch Anette Theile begannen die intensiven Gespräche auf dem ersten Spaziergang durch den Ort. Zwischen Wahlergebnissen, Kommunalpolitik und Familiengeschichten ging es hin und her, bis am späten Abend der Grill erkaltet und so manche Flasche Bier gelehrt war. Auf dem Weg ins Nachtquartier beim Fraktionssprecher Rico Heinemann in Nesse-Apfelstädt bekamen Raphaela und ich noch mit auf den Weg, für das Frühstück am nächsten Morgen unbedingt DDR-Brötchen vom Bäcker mitzubringen.

Zwar raubte uns die Vorstellung, DDR-Brötchen kaufen zu müssen, nicht den Schlaf. Und gemeinerweise war auch Rico nicht bereit, uns über die Namengebung aufzuklären: „Schaut mal selber, nö!“ Und so parkten wir am nächsten Morgen vor dem Bäckerladen. Und tatsächlich – die Brötchen hießen wirklich so wie versprochen. Und auch der Himmel fiel uns keineswegs auf den Kopf bei der Bestellung. Und geschmacklich erreichte das Produkt beim Frühstück in allen Bewertungskategorien höchste Punktzahlen.

Für den Freitag stand der Besuch der Klassiker-Stadt Weimar auf dem Programm mit dem Schwerpunkt der Bauhaus-Ausstellung. Bedrückend war die Bahnfahrt mit dem Blick auf den Glockenturm am ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald. In Weimar selber waren der Terror des Nationalsozialismus und die Vernichtung der Juden vergegenwärtigt durch eine Bilderausstellung im öffentlichen Raum. Sie erinnerte daran, dass im Dritten Reich die Insassen des Buchenwald-KZs durch die Straßen der Goethe-Schiller-Stadt getrieben wurden.

Erster Programmpunkt war der Besuch eines offenen Jugend- und Kulturzentrums mit dem Namen ‚Mon Ami‘. Dieser stammt keineswegs aus dem Französischen, sondern stellt lediglich eine Verballhornung des Bergriffs ‚Mein Amerikaner‘ dar. Denn nach dem Ende des 2. Weltkriegs hatte die amerikanische Militärverwaltung das Gebäude genutzt, unter anderem, um dort Tanzveranstaltungen abzuhalten.

Nach Stadtbesichtigung und Mittagessen stand der Besuch der Bauhaus-Ausstellung auf dem Plan. 100 Jahre nach der Gründung in Weimar feierte  die Stadt die Geburt dieser Kunstbewegung mit zahlreichen Veranstaltungen. Die Ausstellung zeigte sehr eindringlich, welchen Einfluss insbesondere auf Architektur, Design und Handwerk diese Bewegung hatte. Die Moderne, wie wir sie in Europa kennen, ist ohne die Ideen von Schlemmer, Gropius und van der Rohe nicht vorstellbar.

Zum Abendessen trafen wir uns im Pfarrhaus von Ingersleben bei Michael Göring, der sich nach der Kommunalwahl als Mandatsträger aus der Politik zurückgezogen hat, um einer neuen Generation Platz zu machen. Dieser Abend bot in seinen Gesprächen den Raum, auf die Vergangenheit, insbesondere in der ehemaligen DDR zurückzublicken. Die Geschichten, auch wenn sie teilweise mit humorigen Anekdoten ausgeschmückt wurden, warfen immer noch einen bedrückenden Schatten, dem man auch als Zuhörer deutlich wahrnehmen konnte. Der Begriff ‚Dorffunk‘ wurde ausführlich erläutert, insbesondere dessen Funktion bei der Mobilisierung der Bevölkerung bei den Wahlen.

Es war schlichtweg normaler Alltag, dass man in der DDR die Wahlkabine nicht benutzt hatte und dass säumige Wählerinnen und Wähler über die ortseigene Lautsprecheranlage öffentlich zur Stimmabgabe aufgerufen wurden. Es war systemüblich, dass eine Lebensbiographie sich schlichtweg über die Konformität mit dem Staatssystem ergab und eben nicht aus Vorlieben und Talent. Doch durch diese Erzählungen strahlten immer wieder das Glück und die Freude über die gelungen friedliche Überwindung der Diktatur hindurch.

Auch dieser Abend endete mit einem Bestellauftrag für DDR-Brötchen, der am folgenden Morgen schon Routinemäßig abgewickelt wurde. Der Samstag begann mit einem Besuch der Gemäldesammlung im Gothaer Schloss, die mit Werken von Cranach und Caper David Friedrichs glänzte. Beim anschließenden Gang durch die Stadt ließ Michael Göring nochmals die aufregenden Tage der Bürgerrechtsbewegung zum Ende der DDR Revue passieren, als die Menschen in großen Massen auf die Straße gegangen waren, um den Rednerinnen und Rednern des gesellschaftlichen Aufbruchs zuzuhören.

Im Anschluss ging es mit der Waldbahn zum Landschaftspark Rheinhardsbrunn nachdenklich und dem darin liegenden Schloss. Bei diesem Gelände handelt es sich um ein Privatisierungsprojekt, dessen Scheitern das Land Thüringen zu einer kostspieligen Rettungsaktion zwang. Eine Enteignung des Besitzers sorgte letztendlich für die notwendige Klärung der Eigentumsverhältnisse. Das Bausubstanz des dortigen Schloss zerfällt nunmehr seit 30 Jahren, so dass auf der anderen Seite die Natur von der Situation profitierte und sich einen wilden Lebensraum zurück erobern konnte. So steht das traditionsreiche Schloss nun in der Landschaft zwischen Dornröschenschloss-Ambiente und Bauruinenstaub.

Die Pflege des Landschaftspark und die Führungen über das Gelände werden durch Subotnik-Einsätze engagierter Bürgerinnen und Bürger, also mit samstäglicher, ehrenamtlicher Arbeit, geleistet. Ziel der Initiative ist es, dass das Land Thüringen die Verantwortung für Landschaftspark und Gebäude übernimmt und in einem umfassenden Nutzungskonzept Natur und Geschichte führt die Menschen erlebbar macht

Stimmungsvoller Abschluss und Höhepunkt der Reise ins wilde Herz der Thüringer Grünen war gemeinsame Sommerfest am Samstagabend im Pfarrgarten der Herrnhuter Brüdergemeine. Die beiden Ratsmitglieder Waltraut Angenendt und Anette Theile ließen nochmals die Geschichte der zehnjährigen Freundschaft Revue passieren. REs war ein Wiedersehen von zahlreichen Freundinnen und Freunden, aber auch der Moment, neue Verbindungen zu knüpfen. Es ließ sich in den Geschichten und Erzählungen erleben, wie eng das Netz der Gemeinschaft bereits geknüpft war und wie der Zufall überraschende Verbindungslinien aufdeckte.

Und als die Sonne lange untergegangen war, die Feuerstelle loderte, wurden die Liederbücher rausgeholt. Denn schon vor Jahren hatten wir erfreut festgestellt, dass das gemeinsame Volksliedgut die jahrzehntelange Trennung überdauert hatte. „Kein schöner Land“ und „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ blieb beidseits des Eisernen Vorhangs erhalten und erinnerte uns alle daran, dass gerade auch die Kultur ein kraftvolles Bindeglied zwischen Menschen sein kann. Und so endete der Abend mit einer für alle fassbaren Gewissheit: nämlich dass sich der Einsatz für diese innerdeutsche Partnerschaft gelohnt hat und fruchtbar weitergedeihen soll.

Am nächsten Morgen breitete sich schon früh eine graue Abreisestimmung aus. Natürlich wollten die Gespräche nicht enden, denn so viel gab es noch zu erzählen, so viele Ideen zu besprechen und so viele Ziele gilt es doch noch zu erreichen. (Wie lässt sich der Landtagswahlkampf in Thüringen unterstützen? Wie kann eine Hilfe im Drensteinfurter Kommunalwahlkampf ausgestaltet werden? Wer trifft sich auf dem Kirchentag in Dortmund). Doch die Zeit verrann unerbittlich und der Abschied war entsprechend bewegend.

Nun ist dieser Reisebericht doch ein wenig persönlicher geraten, als ich ihn zuerst angedacht hatte. Und so skeptisch ich auch zu Beginn auf die Planung der zwei dichten Wochenenden in Thüringen geblickt hatte, so kann ich heute für mich festhalten: Es waren wilde, bewegende Tage, die mir immer in Erinnerung bleiben werden, nicht nur wegen der gesellschaftlichen Wendezeit, deren Grünen Duft sich in diesen Spätfrühlingstagen erschnuppern lässt.

Jürgen

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